Die Diagnostik ist ein elementarer Bestandteil einer adäquaten Behandlungsplanung und der Durchführung jeder Therapie. Wie bei allen psychischen Störungen, kommt der Diagnostik auch bei den Essstörungen eine zentrale Bedeutung zu. Ein fundierter, diagnostischer Prozess integriert dabei umfassende Informationen, die mit verschiedenen Erhebungsmethoden und aus unterschiedlichen Perspektiven erfasst werden:
(a) Anamnesegespräch
Die Grundlage bildet zunächst das ärztliche Anamnesegespräch, in welchem der:die Ärzt:in in vertrauensvoller und empathischer Weise die Lebensrealität und den Gesundheitsstatus der Patient:innen erfasst. Hierzu zählen bspw. soziodemographische Daten, aktuelle Beschwerden und Symptome, die somatische und psychiatrische Vorgeschichte, aktuelle Lebensumstände und Belastungsfaktoren sowie soziale und entwicklungsbezogene Faktoren. Hierfür existieren (semi-)strukturierte Leitfäden (bspw. das strukturierte Interview „Eating Disorder Examination“). Die Durchführung benötigt jedoch einige Übung und ausreichend Zeit. Die dort enthaltenen Fragen können aber auch ein klassisches, freies Anamnesegespräch inspirieren. Gerade bei Jungen und Männern, bei denen der Verdacht auf eine Essstörung besteht, sollten Hausärzt:innen nicht zögern, diesen Verdacht empathisch und direkt anzusprechen, ohne die Betroffenen in eine schambesetzte oder Rechtfertigungssituation zu bringen. Betroffene neigen teils aus Scham oder befürchteter Stigmatisierung dazu, eine Essstörung gegenüber ihrem:r Ärzt:in nicht selbst offen anzusprechen. Zusätzlich kann es hilfreich sein, Betroffenen die Symptome von Essstörungen zu beschreiben und kooperativ zu überprüfen, ob Anhaltspunkte hierfür vorliegen. Hier kann auch das auf unserer Webseite zur Verfügung gestellte Informationsmaterial für Betroffene und Angehörige eine nützliche Ressource sein. Dies kann Patienten zur ökonomischen Aufklärung und individuellen Auseinandersetzung bis zum nächsten vereinbarten Sprechstundentermin mitgegeben werden, damit diese behutsam eine Problemeinsicht aufbauen können. Ebenfalls können Sie Betroffenen den Link zu dieser Webseite zum Selbststudium mitteilen.
(b) Strukturierte Fragebogendiagnostik
Eine weitere Säule der Diagnostik besteht im Einsatz wissenschaftlich validierter, psychometrischer Fragebögen. Diese erlauben einerseits eine Statusdiagnostik, können aber auch zur Verlaufsmessung eingesetzt werden. Ein häufig eingesetzter Fragebogen ist der Eating Disorder Examination-Questionnaire (EDE-Q). Hierbei handelt es sich um ein sehr ökonomisches Instrument, das von Patient:innen selbstständig ausgefüllt und einfach ausgewertet werden kann. Der EDE-Q wird zur strukturierten Diagnostik in Deutschland sehr häufig eingesetzt. In Bezug auf Jungen und Männer mit Essstörungen ist er allerdings mit gewisser Vorsicht zu interpretieren, da die Entwicklung anhand weiblicher Personen erfolgte und wissenschaftliche Untersuchungen zeigen konnten, dass das Verfahren eine „männliche“ Essstörungspathologie vermutlich nur unzureichend erfasst. Mangels geeigneterer deutschsprachiger Alternativen empfehlen wir hier dennoch den Einsatz dieses kostenfrei herunterladbaren Instruments. Unsere Forschungsgruppe arbeitet gerade an der Entwicklung eines für die Bedürfnisse von Männern mit Essstörungen konzipierten Fragebogens.
(c) Somatische Untersuchung
Bei Essstörungen können zahlreiche somatische Komorbiditäten und Komplikationen auftreten, welche einer ärztlichen Mitbehandlung und Überwachung bedürfen. Während die Behandlung primär psychotherapeutisch erfolgen soll, ist eine enge Vernetzung psychotherapeutischer und somatischer Behandler:innen dringend indiziert und in der nationalen S3-Leitlinie empfohlen. Hausärzt:innen kommt hier aufgrund ihrer somatischen Expertise, der Vertrauensbasis zu Patient:innen und ihrer niedrigschwelligen Erreichbarkeit eine wichtige Funktion in der somatischen Behandlung zu.
Somatische Mitbehandlung
Essstörungen zählen zu den psychischen Erkrankungen mit den höchsten Risiken für somatische Komorbiditäten und Mortalität. Die somatische Mitbehandlung ist daher ein essenzieller und wichtiger Bestandteil der interdisziplinären Behandlung von Jungen und Männern mit Essstörungen. Gerade Hausärzt:innen sind hier aufgrund ihrer hohen somatischen Expertise von großer Bedeutung. Dabei sollten neben anderen insbesondere folgende Aspekte berücksichtigt werden:
- Körperliche Untersuchung: Eine gründliche körperliche internistische und neurologische Untersuchung durch eine:n Ärzt:in soll den allgemeinen Gesundheitszustand der Patient:innen beurteilen. Hierzu gehören auch Größe und Gewicht, inkl. Gewichtsverlauf. Da Wiegen für viele Patient:innen ein schwieriges Thema sein kann, erfordert dies ein sensibles Vorgehen, das auf die Bedürfnisse des:der jeweiligen Patient:in angepasst wird.
- Vitalfunktionen: Überprüfung von Herzfrequenz und Blutdruck; Herzrhythmusstörungen werden durch ein EKG erfasst.
- Laboruntersuchungen: Blutuntersuchungen zur Bewertung des Ernährungszustands, der Elektrolytwerte (wie Natrium, Kalium, Phosphat zur Früherkennung eines Refeeding-Syndroms bei Nahrungswiederaufnahme), verschiedener Hormone (z.B. Schilddrüsenhormone, Östrogen bei Frauen, Cortisol etc.), des Blutzuckerspiegels und anderer physiologischer Marker, die bei Essstörungen beeinträchtigt sein können.
- Knochengesundheit: Je nach Indikation und klinischer Notwendigkeit ggf. Untersuchung der Knochendichte und möglicher Osteoporose-Risiken aufgrund von Mangelernährung und hormonellen Veränderungen.
- Gastrointestinale Probleme: Abklärung von Problemen im Verdauungstrakt, die aufgrund von Essstörungen auftreten können, häufig allerdings funktioneller Natur sein können.
- Zahnzustand: Überprüfung des Zustands der Zähne und des Zahnfleisches, da Essstörungen wie Bulimia nervosa mit wiederholtem Erbrechen zu Zahnproblemen führen können.